Tinh (in schwarz) und Dak genau an der Stelle, an der sie sich vor einem Jahr zum ersten Mal trafen
Veröffentlichungsdatum: 9.11.2020
Es ist etwa ein Jahr her, dass Dak zum ersten Mal zu Blue Dragon kam. Seine Reise nach Hanoi, während er einen unserer Sozialarbeiter kennenlernte, ist eine dieser unglaublichen Geschichten, die eines Tages verfilmt werden könnte.
Von seiner Heimat auf der südlichsten Spitze Vietnams, der Insel Phu Quoc, war er weggelaufen und hatte sich mehrere Monate lang auf den Weg in den Norden gemacht. Dak hatte nie einen Plan oder ein Gefühl dafür, wohin er gehen wollte. Es gab keinen Ort, an dem er sein musste und niemanden, den er treffen wollte. Also reiste er einfach weiter. Mit dem Geld, das er hatte, kaufte er sich immer wieder eine neue Busfahrkarte. Wenn er nicht mehr weiter konnte, verbrachte er einige Zeit in einer neuen, fremden Stadt, lebte allein auf der Straße und überlebte durch Betteln oder Arbeiten. Das Leben auf der Straße mag romantisch klingen, aber Dak war erst 13 Jahre alt. Das Alleinsein war hart, und er musste regelmäßig hungern.
In der Nacht, in der er Tinh, einen Sozialarbeiter von Blue Dragon, in Hanoi traf, hatte Dak schon tagelang nichts mehr gegessen. Er suchte verzweifelt nach einem Ort, an dem er schlafen konnte, ohne Angst vor Übergriffen haben zu müssen. Tinh brachte ihn zum Blue Dragon Safe House, das wie eine Oase für Dak war: Er konnte so viel essen, wie er wollte und hatte ein weiches Bett für sich allein. Auch für Tinh war das Treffen ein denkwürdiges Ereignis. Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt erst seit ein paar Monaten bei Blue Dragon. Die Möglichkeit, Straßenkindern zu helfen, war sein Traumjob.
Tinh, der in einer abgelegenen Bergregion in einer ethnischen Tay-Gemeinschaft aufwuchs, war mit Not und Elend vertraut. Trotz der Armut seiner Familie war er fest entschlossen, zu studieren und die Universität abzuschließen, auch wenn das bedeutete, mit 14 Jahren von zu Hause wegzugehen und in Internaten zu leben, während er studierte. Einen Universitäts-Abschluss in Sozialer Arbeit zu machen, war eine weitere große Herausforderung – aber er schaffte es, schloss sein Studium ab und fing bei Blue Dragon an, damit er Kindern wie Dak helfen konnte.
Aber dies war nicht das „Happy-End“ dieser Geschichte – noch nicht.
Als Dak mit etwas Ruhe und gutem Essen wieder zu Kräften kam, nahm er sich vor, wieder aufzubrechen. Er glaubte einfach nicht, dass Blue Dragon oder überhaupt irgendjemand sich wirklich für ihn interessieren würde. Sein Leben war übersät mit Ablehnung und Entbehrungen. Er dachte, er würde alleine besser zurechtkommen. Da er ein verantwortungsbewusster Mensch ist, ging Dak jedoch nicht einfach so. Stattdessen kam er zu uns, um uns zu sagen, dass er gehen würde. Wir versuchten, ihn umzustimmen, aber seine Entscheidung stand fest, auch wenn er keinen Plan hatte und nicht wusste, was als nächstes kommen würde. Alles, was wir tun konnten, war, ihm etwas Geld zu geben, damit er für ein paar Tage etwas zu essen haben würde, und ihn wissen zu lassen, dass er jederzeit wiederkommen kann.
Das nächste Mal, als wir Dak sahen, war alles anders. Einige Monate waren vergangen. Vietnam wurde von der COVID-19-Pandemie heimgesucht. Ein landesweiter Lockdown stand unmittelbar bevor. Dak war zurück auf den Straßen von Hanoi und war sehr krank. Das Krankenhaus diagnostizierte bei ihm Influenza A, aber für ein paar beunruhigende Stunden befürchteten wir, dass er das Coronavirus haben könnte. Er war schwach und dünn, hustete stark und bekam kaum Luft. Dak war froh, wieder gefunden zu werden, und als die Sozialarbeiter*innen von Blue Dragon abwechselnd an seinem Bett im Krankenhaus saßen, seine Hand hielten und ihm den Schweiß vom Gesicht wischten, wusste er, dass er seine Familie gefunden hatte.
Seit diesem Tag ist Dak bei Blue Dragon. Er wird bald 15 Jahre alt und geht wieder zur Schule, um dort weiterzumachen, wo er in der sechsten Klasse aufgehört hat. In dieser Woche erinnerte er sich daran, dass es ein Jahr her war, dass er Tinh zum ersten Mal traf. Also bat Dak um einen besonderen Gefallen. Er wollte mit Tinh zurück zum See im Stadtzentrum Hanois gehen, zu der Stelle, an der sie sich zum ersten Mal trafen. Dort machten die beiden ein Foto, das den Moment widerspiegelt, der Daks Leben veränderte.
Die Geschichte von Dak ist noch lange nicht zu Ende. Es wird Tage geben, an denen er vor neuen Schwierigkeiten steht, und Tage, an denen er große Freude erleben wird. Aber komme, was wolle: er weiß, dass er nie wieder verloren sein wird. Wo immer es ihn hinziehen wird, er wird wissen, dass er einen Platz hat, an den er gehört.
Übersetzt von Kirsten Broschei (Fotos und Text aus dem Blog vom Blue Dragon Gründer Michael)