Su in ihrem Haus während des November-Hochwassers
Veröffentlichungsdatum: 09.12.2020
Su hatte schon immer ein schweres Leben.
Sie wohnt an einer Lagune in der Provinz Hue in Zentralvietnam. Wie viele Frauen in dieser Region hat ein jahreslanges Leben in Not sie stark werden lassen. Es gibt nicht viel, womit sie nicht umgehen kann.
Doch jetzt, als Mutter eines Kindes und mit einem weiteren Baby auf dem Weg, macht Su sich Sorgen um die Zukunft. Ihre Sorge ist nicht nur, dass sie in einem Haus aus Plastikplanen lebt. Oder dass die jüngsten Taifune und Überschwemmungen in ihrer Gegend ihrer Familie erhebliche Einkommensverluste beschert haben und sie buchstäblich von Tag zu Tag lebt.
Es ist die Ungewissheit.
Jedes Jahr in der Regenzeit ziehen Wirbelstürme über Zentralvietnam. Normalerweise können sich die Familien auf die unweigerlich kommende Regenzeit vorbereiten. Aber in diesem Jahr war alles anders und das in einem Ausmaß, das die Einheimischen so noch nicht erlebt haben.
Die gesamte Region Zentralvietnams wurde von einem Sturm nach dem anderen heimgesucht, Sturzfluten und Erdrutsche waren die Folgen. 1,5 Millionen Menschen waren von dem mehr als sechs Wochen andauernden, unbarmherzigen Wetter betroffen. 235 Menschen sind gestorben oder werden vermisst.
Sus Haus wurde beschädigt und wochenlang hatte sie kein Einkommen. Sie weiß allerdings auch, dass es noch schlimmer hätte kommen können. Und sie fragt sich, ob diese „neue Normalität“ bedeutet, dass es nächstes Jahr genauso kommen wird.
Blue Dragon arbeitet seit 2005 in der Provinz Hue. Damals retteten wir einen Jungen aus dem Menschenhandel. Er war in Hue aufgewachsen, nicht weit von Sus Zuhause, hatte aber nie eine Schule besucht und war daher ein leichtes Ziel für die Menschenhändler. Sie versprachen ihm eine Ausbildung, setzten ihn aber stattdessen zum Arbeiten in der südlichen Stadt Ho Chi Minh ein.
Wir dachten damals, dass seine Rettung ein einmaliges Ereignis für Blue Dragon sein würde. Seitdem haben wir in Vietnam mehr als 400 weitere Kinder aus dem Menschenhandel und fast 600 Kinder und Frauen aus der Zwangsprostitution gerettet.
Fünfzehn Jahre, nachdem wir den 13-jährigen Jungen gerettet haben, ist der Kinderhandel aus Hue in die südlichen Ausbeuterbetriebe so gut wie beendet.
Es dauerte ein Jahrzehnt, um dem Kinderhandel das Handwerk zu legen. Wir haben es geschafft, indem wir immer und immer wieder in die Arbeit der Menschenhändler eingriffen, bis sie aufgaben.
Wir verbrachten viel Zeit in den Dörfern, um die Familien und ihr Leben kennen zu lernen und ihre Situation zu verstehen. Wir zeigten ihnen anhand von Fotos und Filmen, dass ihre Kinder nicht, wie ihnen gesagt wurde, einen Beruf erlernten, sondern 16 bis 18 Stunden am Tag in Fabriken arbeiteten. Wir baten sie um Erlaubnis, die Fabriken ausfindig zu machen, in denen ihre Kinder ausgebeutet wurden, und sie nach Hause zu bringen. Und wir unterstützten die Familien über Jahre hinweg, damit ihre Kinder wieder zur Schule gehen konnten.
Im Grunde haben wir eine Gemeinde nach der anderen vor erneutem Kinderhandel geschützt, indem wir die Menschenhändler aus ihrem Geschäft gedrängt haben.
Doch die Stürme von Ende 2020 haben eine neue Bedrohung geschaffen. Viele Familien befinden sich, wie die von Su, plötzlich in einer verzweifelten Lage. Verlorene Einnahmen und die Notwendigkeit, Hab und Gut zu reparieren oder zu ersetzen, bedeuten, dass das Geld für Lebensmittel und Schulgebühren in den kommenden Monaten knapp werden wird.
Menschenhändler arbeiten, indem sie die Schwäche der Menschen ausnutzen. Und für die Menschen in Zentralvietnam bedeutet dies, dass sie nun einem erhöhten Risiko des Menschenhandels ausgesetzt sind.
Ohne eine helfende Hand könnte Su leicht zur Zielscheibe von Menschenhändlern werden, die ihr oder ihren Kindern eine Möglichkeit anbieten, Geld zu verdienen. Su hat Glück, dass die Hilfe bereits da ist. Das Team von Blue Dragon arbeitet in der Provinz Hue mit ihr und dem örtlichen Frauenverband zusammen, um ihre Familie durch die kommenden Monate bringen zu können.
Und wenn wir uns ihr Haus ansehen, wissen wir, dass es nicht reicht, ihnen zur Normalität zurück zu helfen. Sie benötigen viel mehr als das.
Im Moment konzentrieren wir uns darauf, Hilfsgüter zu liefern, Schäden zu reparieren und verlorenes Vieh und Werkzeug zu ersetzen. Dass wir das tun können, verdanken wir den Menschen in Vietnam und auf der ganzen Welt, die gespendet haben, um Familien wie der von Su schnell zu helfen.
In den kommenden Monaten stellt sich zusätzlich die viel größere Frage, wie die Familien langfristig vor Menschenhändlern geschützt werden können, wenn die Krise vorbei ist.
Es hat mehr als ein Jahrzehnt gedauert, um den Kinderhandel aus dieser Gegend zu verbannen. Wir werden nicht zulassen, dass diese jüngste Krise eine Gelegenheit für die Menschenhändler schafft, ihren Weg dorthin zurückzufinden.
Für Su und ihre Familie, und für alle Kinder dieser Region müssen wir uns gegen den Menschenhandel stark machen.
Übersetzt von Kirsten Broschei (Fotos und Text aus dem Blog vom Blue Dragon Gründer Michael)