Veröffentlichungsdatum: 06.03.2022
Sẻngs Befreiung aus der Sklaverei hätte der Beginn ihrer Freiheit sein sollen. Aber die Angst vor dem, was danach noch kommen sollte, bedeutete, dass sie nicht wirklich frei sein konnte.
Die Rettungsaktion verlief genau nach Plan. Wir fanden Sẻng in China, etwa 500 km von der Grenze zu Vietnam entfernt. Ein Team konnte sie innerhalb von 24 Stunden zu einem offiziellen Checkpoint zurückbringen. Kurze Zeit später war sie wieder sicher in Vietnam. Sẻngs schreckliche vier Monate in einer Zwangsehe waren damit vorbei. Doch was dann geschah, war etwas ungewöhnlich.
Nachdem sie die Grenze überquert hatte, fragte Sẻng, ob es in Ordnung sei, bei der Polizei keine Aussage zu machen. Normalerweise begleiten wir Überlebende des Menschenhandels zur Polizei und erstatten offiziell Anzeige, damit die Menschenhändler:innen gefasst werden können. Nach vietnamesischem Recht haben Opfer von Straftaten das Recht, die Aussage zu verweigern, aber in der Regel möchten die Überlebenden das Verbrechen anzeigen. Auf die Frage, warum sie dies nicht möchte, erklärte Sẻng, dass sie nichts Anderes wolle, als zu Hause bei ihrer Familie zu sein. Sie hatte Angst, verurteilt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, wenn ihre Familie wüsste, was ihr passiert war.
Sẻng dankte uns, dass wir ihrem Hilferuf gefolgt sind und sie nach Vietnam zurückgebracht haben. Aber mit leiser, nervöser Stimme bat sie uns, sie jetzt allein nach Hause gehen zu lassen und keinen Kontakt mehr mit ihr aufzunehmen. Sẻng wusste, dass wir ihr Rechtsbeistand, eine Notunterkunft, Beratung und Unterstützung bei der Rückkehr in die Ausbildung oder bei der Arbeitssuche anbieten konnten, aber sie wollte einfach nur den Albtraum vergessen, dem sie gerade entkommen war, und in ihre Heimat zurückkehren. Sie hatte bereits bis ins Detail geplant, wie sie ihrer Familie ihre Abwesenheit erklären würde. Sie sollten nie erfahren, dass sie als Opfer des Menschenhandels verkauft worden war oder dass sie jemals einen Fuß nach China gesetzt hatte.
Wir respektierten ihren Wunsch und gaben Sẻng Geld für eine Busfahrkarte zurück in ihre Heimatstadt sowie für neue Kleidung und Essen. Für den Fall, dass sie ihre Meinung ändern sollte, hatte sie unsere Telefonnummer. Die Entscheidung lag bei ihr. Sẻngs Wunsch nach völliger Anonymität – ihr Wunsch, die Erfahrung der Sklaverei vollständig hinter sich zu lassen, als wäre sie nie geschehen – ist zwar ein wenig ungewöhnlich, aber nicht überraschend. Traurigerweise befürchtete Sẻng, dass ihre Rückkehr nach Hause durch das Gewicht der Erwartungen, die auf ihr lasteten, getrübt werden würde. Das passiert nicht jedem, den wir retten, aber es ist kein seltenes Phänomen. Nachbar:innen, Verwandte und sogar völlig Fremde meinen, sie hätten das Recht, ihre Meinung zu äußern.
„Sie hätte vorsichtiger sein müssen.“
„Vielleicht wollte sie einen Chinesen heiraten und hat es sich dann anders überlegt.“
„So ein dummes Mädchen.“
Manche Leute geben schnell ihrer Familie die Schuld: „Sie müssen sie verkauft haben.“ Dieser Mythos wird von den Medien und sogar von einigen internationalen Nichtregierungsorganisationen häufig aufrechterhalten. Er ist selten wahr. Wieder andere, oft mit guten Absichten, werden ihr ihre eigenen Erwartungen auferlegen: „Sie sollte sich für die Überlebenden einsetzen.“
„Sie sollte ihre Geschichte erzählen, um anderen Mädchen zu helfen, nicht Opfer des Menschenhandels zu werden.“
Frauen und Mädchen, die die Tortur des Menschenhandels überleben, haben so viel zu bewältigen. Häufig wird ihnen von ihrem/ihrer Menschenhändler:in das Gefühl gegeben, sie seien für das Geschehene verantwortlich, weswegen sie sich selbst die Schuld daran geben, Opfer eines Verbrechens geworden zu sein. Wenn Freund:innen, Familie und alle anderen dem ebenfalls beipflichten, ist das für manche mehr, als sie ertragen können. Sẻng wusste das und wollte einfach nur frei sein. Auch wenn das bedeuten würde, dass ihr jede Hilfe verweigert würde, um sich von ihrer Tortur zu erholen.
Sẻngs Geschichte erinnert uns daran, wie wichtig es ist, den Frauen und Mädchen zuzuhören, die Menschenhandel überlebt haben – und nicht auf die Vorurteile zu hören, die wir im Laufe der Jahre gelernt haben. Die Erfahrungen, die jede Überlebende gemacht hat, und die Unterstützung, die sie braucht, um sich zu erholen, sind sehr individuell. Kein Mensch ist wie der andere. Eine Geschichte, die wir einmal im Internet gelesen haben, oder eine Anekdote, die wir von einem Freund gehört haben, sollte nicht unser Urteil über Frauen prägen, die Opfer von Menschenhandel wurden. Wir haben kein Recht, von ihnen zu verlangen, unsere Erwartungen zu erfüllen.
Sẻng hat die Entscheidung getroffen, von der sie glaubt, dass sie das Beste für sie ist. Dazu hat sie jedes Recht, aber sie hätte niemals solche Angst durchleben müssen. Um wirklich frei von Sklaverei zu sein, müssen Frauen und Mädchen auch frei von den Vorurteilen sein, die ihnen so häufig entgegengebracht werden.
Übersetzt & adaptiert von Kirsten Broschei (Fotos und Text aus dem Blog von Blue Dragon Gründer Michael Brosowski)